Bewegender Abend mit Hinterbliebenen des rechten NSU-Terrors
Sonntag
03 Nov
2024
Auch 25 Jahre nach dem Tag, der sein ganzes Leben verändern sollte, hat Mehmet O. mit den Tränen zu kämpfen: Der heute 44-Jährige ist das erste Opfer des sogenannten “Nationalsozialistischen Untergrunds”, kurz NSU. Am Samstagabend berichtete er im Rahmen der Novembertage in der Kulturweberei (Seilerstraße) über seine traumatischen Erfahrungen. Die Rechtsterroristen verübten am 23. Juni 1999 einen Anschlag auf die Pilsbar “Sonnenschein” in Nürnberg. “Ich hatte den Laden gerade erst eröffnet. Es war kein großer Traum, aber es war mein Traum”, erzählt er. Und noch heute fragt er sich, ob alles anders gekommen wäre, wenn schon damals nicht in seine Richtung als Betroffener ermittelt worden wäre, sondern in Richtung Rechtsextremismus. “Das war das Schlimmste und viel schlimmer als der Anschlag mit der Taschenlampenbombe: Dass ich verhört wurde wie ein Beschuldigter, als ob ich kriminell wäre..”
Erst im Zuge der Aufarbeitung rund um den NSU-Komplex erfährt Mehmet O., dass er das vermutlich erste Opfer der Rechtsterroristen war. Allerdings nicht von den Ermittlungsbehörden, sondern von einem Journalisten. Dass ihnen als Opfer und Hinterbliebene die vollständige Aufarbeitung versprochen wurde, dies aber bis heute ausgeblieben sei, ärgert nicht nur Mehmet O. Auch Mandy Boulgarides, Tochter von Theodoros Boulgarides, beklagt an dem Abend in Zwickau, dass die Akten auf Jahrzehnte unter Verschluss seien obwohl noch so viele Fragen offen seien.
“Was wir erleben mussten, ist eine absolute Täter-Opfer-Umkehr. Ein Anerkennen des Leids oder Mitgefühl? Fehlanzeige!”, so die Münchnerin. Ihr Vater Theodoros wurde am 15. Juni 2005 in seinem Geschäft in München-Westend erschossen, er war das siebte Opfer der deutschlandweiten Mordserie. Psychologische Hilfe und Unterstützung hätten sie nicht bekommen, stattdessen sei ihre Mutter illegalen Polizeiverhörmethoden ausgesetzt gewesen. Ihre Schwester, damals noch minderjährig, hätte ohne jeden Beistand aussagen müssen. Monatelang habe man ihren Vater und die Familie verdächtigt, in kriminelle Machenschaften verwickelt zu sein – ein Hinweis auf Ermittlungen in Richtung eines möglichen politischen oder gar rechtsextremen Hintergrunds findet sich hingegen kein einziger in den Akten. Erst mit dem Bekennervideo hatte die Familie Boulgarides Gewissheit für einen Verdacht, den sie wie so viele andere Menschen aus dem Umfeld der Getöteten schon lange hegten.
Direkte Fragen nach ihrem Vater könne sie auch heute noch nicht beantworten ohne dass ihr die Stimme versage, bat Mandy Boulgarides um Verständnis. Gemeinsam mit Mehmet O. nahm sie das Publikum, darunter auch Zwickaus Oberbürgermeisterin Constance Arndt, dennoch auf sehr bewegende Art mit: Sie schilderte ihre Eindrücke und stellte immer wieder klar, dass es keinen Schlussstrich geben dürfe, solange die Akten unter Verschluss seien und die versprochene Aufarbeitung nicht vollumfänglich geleistet werde.
Auf die Frage aus dem Publikum, warum sie trotz ihrer traumatischen Erfahrungen in die Stadt gekommen sei, in der die Täter so lange unbehelligt gelebt hatten, antwortete sie: “Weil ich Zwickau nicht stigmatisieren möchte, ich möchte der Stadt keinen braunen Stempel aufdrücken. Denn ich bin noch immer der festen Überzeugung, dass auf der anderen Seite mehr Menschen stehen.” Gerade in Zwickau sei es wichtig ins Gespräch zu kommen und die Perspektive der Betroffenen hörbar zu machen, betonte auch Mehmet O. “Wir machen weiter und geben nicht auf!”
Es war der erste Besuch einer unmittelbar Hinterbliebenen eines NSU-Todesopfers in Zwickau. Wir bedanken uns an der Stelle ausdrücklich bei Mandy Boulgarides und Mehmet O. für den bewegenden Abend und die persönlichen Schilderungen. Ein großes Danke geht ebenso an Birgit Mair vom Institut für sozialwissenschaftliche Forschung, Bildung und Beratung (ISFBB), die sich der Aufarbeitung der NSU-Verbrechen verschrieben hat, den getöteten Menschen ein Gesicht gibt und ihre Geschichten sichtbar macht.
Eine Veranstaltung im Rahmen der Zwickauer Novembertage.
Veranstalter: Alter Gasometer e.V.